Urwaldsteig am Edersee

Im ICE nach Kassel kontrolliert die Zugbegleiterin unsere Tickets: „Sie tragen keine Maske. Sie haben doch sicher eine ärztliche Bescheinigung?“ – „Ja, ich habe das Attest dabei, möchten Sie es sehen?“ – „Ja, bitte.“ – „Hier ist es.“ – „Alles Ok, danke.“

So einfach kann es sein. Nach mittlerweile 5 Monaten Corona Ausnahmezustand mit Demonstrationen, heftigen Auseinandersetzungen und viel Angst ist niemand mehr unvoreingenommen. Was hilft weiter?

Rückblickend muss ich leider eingestehen: Zahlreiche meiner festen Überzeugungen aus früheren Jahren haben heute keinen Bestand mehr. Und sehr wahrscheinlich gilt auch für meine aktuelle Weltsicht, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft in Teilen oder auch grundlegend anders aussehen wird.

So ist es also kein Wunder, dass ich mit der überwiegenden Mehrheit der Menschheit zu vielen Themen nicht einer Meinung bin. Was ich für reale Fakten halte, gilt für viele Menschen vielleicht als dumm oder unvorstellbar – und umgekehrt.

Vertrauen – die Basis für Kooperation

Deshalb war ich sehr dankbar, als die Schaffnerin mir bei der Kontrolle einen Vertrauensvorschuss gewährt hat. Ihre Worte haben gezeigt: Ich gehe davon aus, dass Du angemessen handelst, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Zusammenarbeit kann nur dann entstehen, wenn wir zunächst eine positive Absicht und Angemessenheit unterstellen.

Dies ist also die erste Basis für gesellschaftliches Zusammenleben: Vielfalt, Fremdheit und die von ihnen ausgehenden Irritationen müssen zunächst wahrgenommen und ausgehalten werden. Statt impulsiv jede Abweichung als Bedrohung zu interpretieren und dem ersten Fight-Flight-Freeze- Reflex zu folgen, müssen die von der Irritation ausgehenden Fragen ergründet werden: Was irritiert mich? Was ist mein Handlungsimpuls? Welche Gründe für die Differenz vermute ich?

Nach-Fragen statt Be-Urteilen

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Urwaldsteig am Edersee

Und dann muss im zweiten Schritt ein klärendes Gespräch eingeleitet werden. „Ich wundere mich und bin verunsichert! Sie tragen als einziger hier im Wagen keine Maske. Haben Sie keine Angst sich oder andere anzustecken? Warum fahren Sie Zug, wenn Sie keine Maske tragen können? Ich würde Sie gerne verstehen!“

In vielen für mich irritierenden Situationen ist meine spontane Reaktion anders: „Kenne ich schon!“, „Lass mich in Ruhe damit!“, „Wieso ich jetzt?“ – Es bleibt also eine Frage der persönlichen Entscheidung und der regelmäßigen Übung, bei Irritationen mit Offenheit und Neugier zu reagieren. Das ist besonders dann schwierig, wenn Ängste mit im Spiel sind. Wenn wir aber mit den einfacheren Situationen anfangen, wird es mit der Übung leichter und kann schließlich zur selbstverständlichen Gewohnheit werden.

Wahrheit entsteht zu zweit

Schon die Haltung der Toleranz und prinzipiellen Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe ist wertvoll. Für mich ist dennoch der zweite Schritt der entscheidende. Ohne Kommunikation bleiben alle Seiten im Ungewissen. Auch wohlwollende Vorurteile können falsch sein. Erst im gegenseitigen Austausch können meine Gedanken, Gefühle und Vorstellungen vom Gegenüber bestätigt werden oder sich als Irrtum herausstellen. Nur gemeinsam können wir herausfinden, was uns trennt und was verbindet.

Die Alternative ist ein auf Vermutungen basierendes (Ver-)Urteilen. Ein Teufelskreis sich immerfort bestätigender Vorurteile kommt in Gang.

Mein Fazit:
Sprechen über Corona ist kompliziert. Unsicherheit und Spekulationen dominieren die öffentliche Diskussion, die gemeinsam geteilte Realität scheint klein. Deshalb sind Dialog und Verständigung dringend notwendig.

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