Königin der Nacht

Heute vor 75 Jahren, am 9. August 1945: Die US-amerikanische Luftwaffe wirft eine zweite Atombombe über Japan ab: In Nagasaki sterben 36.000 Menschen, 40.000 werden verletzt.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endete 1945 der letzte der großen Kriege, die über Jahrhunderte immer wieder Europa verwüstet haben. Gut 20 Jahre später, mitten im kalten Krieg formulierte Theodor W. Adorno 1966 in seinem Radiobeitrag »Erziehung nach Auschwitz« die bis heute aktuelle Forderung, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“ als Grundlage jeglicher Pädagogik.

Beim Wiederlesen hat mich Adornos Text tief berührt. Die von ihm aufgeworfenen Fragen und seine Analyse erscheinen mir bis heute hochaktuell.

Wie konnte Auschwitz geschehen?

Wie konnte es geschehen, dass Menschen andere Menschen fabrikmäßig vernichten – ohne Mitgefühl, ohne daran innerlich zu zerbrechen oder zu verzweifeln?

Adorno beschreibt einen paradoxen Zusammenhang: Einerseits ist die Barbarei des Faschismus so ungeheuerlich, dass sie außerhalb jeder Vorstellung von Menschlichkeit liegt. Und gleichzeitig benennt er gesellschaftliche und geschichtliche Kontinuitäten, wie den Völkermord an den Armeniern durch die Jungtürkische Bewegung, den gesellschaftlichen Unterwerfungsdruck, die Ausprägungen des autoritären Charakters und die Entwicklung der Atombombe, „die buchstäblich mit einem Schlag Hunderttausende auslöschen kann“ (* S.1), für die das Verbrechen von Auschwitz nur eine logische Folge ist.

Was macht es mit uns heute, wenn unser europäischer Reichtum dazu führt, dass hunderttausende Menschen in Kriegs- oder Hungergebieten in einer aussichtslosen Lage zurückbleiben. Wie verarbeiten wir die Information, dass rumänische 'Fremdarbeiter' täglich 30.000 Schweine im Akkord töten müssen und anschließend in Containern zum Übernachten eingepfercht werden.

Wie sieht es heute aus?

Adorno beschreibt eine Reihe von Faktoren, die nach seiner Auffassung zur Möglichkeit von Auschwitz beigetragen haben:

Das Gefühl machtlos einer verwalteten Welt ausgesetzt zu sein, die kulturellen Unterschiede zwischen Stadt und Land, den aggressiven Nationalismus und eine blinde Identifikation mit dem Staat und seinen Autoritäten.

Er beschreibt, wie die Erziehung zu Härte und Effektivität eine Gefühlskälte und Gleichgültigkeit hervorbringt, sodass „jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, sich zuwenig geliebt fühlt, weil jeder zuwenig lieben kann.“ (* S.5)

Die Faszination für die Technik als Selbstzweck ersetzt das Mitgefühl für das Gegenüber. Gibt es hier Kontinuitäten westlicher Überheblichkeit, wenn der deutsche Außenminister nach Beirut fliegt, um den Ort einer Explosionskatastrophe zu besuchen, und er dann Hilfeleistungen an Bedingungen für politischen Wandel knüpft?

Eigenständigkeit in Familie und Gesellschaft

„Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie…; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“ (* S.2)

Auch mehr als 50 Jahre nach Adornos Beitrag sind seine Einsichten über die Notwendigkeit einer Erziehung zu kritischer Selbstreflexion nicht im gesellschaftlichen Mainstream angekommen.

Wieviel kooperative Gegenseitigkeit gibt es im Alltag von Schulen und Kindertagestätten? Wie oft werden Kinder nur verwaltet und organisiert oder müssen sich den Erwachsenen-Regeln unterordnen, ohne zu verstehen? Wie oft wird ihr „Nein“ als Bekundung von Eigenständigkeit positiv bewertet? Wieviel Unterordnung und wieviel Eigenständigkeit wird von uns Erwachsenen im Berufsleben erwartet?

Adorno hat mich heute daran erinnert, dass ein eigenständiges und entschiedenes „Ja“ oder „Nein“ kein gelegentliches Bonbon ist. Es ist notwendiger Ausdruck von Selbstachtung, fördert kritische Entscheidungsfähigkeit und ist eine notwendige Grundlage für jede wirkliche persönliche Begegnung.

Die kritische Urteilsfähigkeit zu stärken ist daher auch die wichtigste Aufgabe der politischen Institutionen, denn wie Adorno mahnt: „indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt.“ (* S.6)

Mein Fazit:
Historische Kontinuitäten wirken im Untergrund weiter, wenn sie nicht bewusst reflektiert, individuell erlebbar und gesellschaftlich verändert werden. Besonders in Familie, Kita und Schule müssen Machtverhältnisse bewusst und für alle Beteiligten transparent gestaltet werden.

* Alle Zitate aus jugendbegegnung.de/media/Adorno-Erziehung_nach_Auschwitz.pdf, abgerufen am 09.08.2020

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