Licht und Schatten – 2
Die verborgenen Schätze in der eigenen Geschichte zu erkennen, erweitert den SpielRaum für die Entfaltung der eigenen Stärken. Das klingt gut, aber wie mache ich es konkret? Wie soll ich das auch noch schaffen, wenn ich schon längst über meine Grenzen gegangen bin und die Kinder wieder alle meine emotionalen Knöpfe drücken?!? Was tun, wenn wir mal wieder im Regen stehen?
Wenn etwas schiefläuft, haben wir oft die unangenehme Gewohnheit, nach der oder dem Schuldigen zu suchen. Manchmal verurteilen wir uns also selbst für unsere Fehler, für zuwenig Geduld, mangelnde Konsequenz oder Voraussicht, dass wir mal wieder zu streng oder zu nachsichtig oder beides abwechselnd waren. Oder wir sehen den Fehler beim anderen. Schließlich haben wir die Situation doch schon 1000x erklärt, und eigentlich wissen unsere Kinder doch auch, dass das so nicht geht...
Und wenn die Kinder nicht mehr ganz klein sind, dann haben wir diese Situationen auch schon oft genug erlebt, um tief in uns zu wissen, dass Beschuldigen und Verurteilen nicht wirklich weiterhelfen.
Wir stecken fest in Gewohnheiten, die nicht hilfreich sind
Diese intellektuelle Einsicht – „So geht es nicht gut weiter!“ – ist ein erster wichtiger Schritt, der uns die Kraft gibt, neue Wege zu gehen. Die bewusst getroffene Entscheidung, nicht mehr weiter schaden zu wollen, weder mir selbst noch meinem Gegenüber, ist der Beginn einer Entdeckungsreise zu den verborgenen Schätzen in uns. Um diese Schätze auszugraben, braucht es natürlich auch etwas Handwerkszeug.
Tara Brach (www.tarabrach.com/selfcompassion1) hat mit ihrer RAIN-Formel eine sehr hilfreiche Erinnerungsstütze und einen heilsamen Ablauf beschrieben, wenn das Unwetter über mich hereinbricht, Blitze zucken und es in der Familie donnert. Oder wenn ich wie ein begossener Pudel im Regen stehe und mich schlecht fühle.
Recognize – Registrieren, was in diesem Augenblick geschieht
Realisieren, was gerade passiert, ist der erste Schritt. Aussteigen aus meiner automatischen Reaktionsweise und bewusst wahrnehmen und anerkennen, welche Gedanken, Gefühle und Handlungen gerade am Werk sind. Egal ob es Gefühle von Scham, Angst oder Ärger sind, Überlegungen wer Recht hat oder was jetzt unbedingt passieren muss, oder ob es körperliche Wahrnehmungen wie Druck, Hitze oder Schwere sind. Das Erste ist ein anerkennendes „Aah – Ja, das passiert jetzt gerade.“
Allow – die Erfahrung erlauben, ganz so wie sie ist
Im zweiten Schritt geben wir uns die Erlaubnis, genau so zu sein, wie wir jetzt sind. Das heißt, wir hören auf zu verurteilen. Statt eine Lösung zu suchen oder unangenehme Gefühle zu vermeiden, erkennen wir die aktuellen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle an, und auch unser Unbehagen darüber, dass sie da sind. Denn alle diese Gedanken, Gefühle und körperlichen Reaktionen haben eine Geschichte. Es gibt Gründe, warum wir so sind, wie wir sind. Also geben wir diesem So-Sein etwas Raum.
Investigate - interessiert und mit Sorgfalt untersuchen und erforschen
So wecken wir im dritten Schritt unsere angeborene Neugierde. Wir fragen uns: Was braucht gerade am meisten meine Aufmerksamkeit? Wie und wo fühle ich mich jetzt gerade in meinem Körper? Und was braucht diese verletzte Stelle wohl am meisten? Hier ist fürsorgliche Einfühlung gefragt. Schnelle intellektuelle Antworten führen oft zu Kurzschlüssen. Wie können wir die feinen Unterschiede erkennen? Noch einmal sanft hineinspüren verfeinert die Sensibilität und gibt uns die Sicherheit, auch Verletzungen und schwierige Gefühle wie Angst oder Scham ehrlich anzunehmen.
Nurture – mit Mitgefühl nähren
Wenn wir erkennen, wie wir unter diesen alten Verletzungen und Gefühlen leiden, dann entsteht im vierten Schritt ganz natürlich Mitgefühl für uns selbst, eine Traurigkeit, die mit dem Wunsch verbunden ist zu helfen und zu heilen. Wie bei einem kleinen verletzten Haustier oder einem weinenden Kind können wir uns selbst eine freundliche Geste schenken. Das kann ein anerkennender Blick sein, eine Hand auf der schmerzenden Stelle oder eine sanfte Berührung an der Wange oder in der Herzgegend. Oder auch ein leise geflüstertes „Ich bin bei Dir“.
In diesem letzten Schritt wandelt sich unsere Fähigkeit zur Einfühlung vom eher neutralen Nachvollziehen und Verstehen von gedanklichen und emotionalen Beweggründen zu einer fürsorglichen Grundhaltung, in der Mitgefühl für uns selbst verbunden ist mit dem Wunsch zu helfen. Im christlichen Kontext wird diese Haltung Barmherzigkeit genannt. Wenn wir mit uns selbst barmherzig sein können – wohlwollend, verständnisvoll, vergebend – dann sind wir unseren Kindern ein wahres Vorbild für ein friedlicheres Zusammenleben.
Und ich habe es oft erlebt: Wenn ich einen Konflikt nicht mehr befeuere, sondern mich um mich selbst kümmere, dann entsteht ein Freiraum, in dem auch mein Gegenüber für sich sorgen kann - oder sich sogar mir zuwenden und mich unterstützen kann.
Meine persönliche Erfahrung - und ich glaube auch eine dringende Notwendigkeit für unser Zusammenleben auf dieser Erde - ist, dass wir lernen, mit den Unstimmigkeiten in uns und um uns in Frieden zu sein und ihnen unsere liebevolle Aufmerksamkeit zu schenken. Dann wird ein Prozess der Heilung in Gang kommen. Dieser Prozess wird dazu beitragen, dass unsere Kinder nicht mehr andere entwerten müssen, um sich selbst richtig zu fühlen, dass sie nicht mehr andere besiegen müssen, um sich stark zu fühlen, und dass sie sich nicht mehr abgrenzen und verkapseln müssen, um sich sicher zu fühlen. Fangen wir also bei uns selbst an…
Mein Fazit:
Jeder Mensch bringt aus seiner Geschichte emotionale Prägungen mit. Wenn diese uns wie ein Sturzbach zu überfluten drohen, hilft RAIN – Realisieren, Anerkennen, Interesse, Nähren. Nur wenn wir selbst in einem emotional ausgeglichenen und zugewandten Zustand sind, können wir für uns und andere konstruktiv handeln.
Zusammengehörige Beiträge:
Licht und Schatten – 3
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