Balance mit Steinen

Während meiner heutigen Morgenmeditation hatte ich eine seltene Geräuschkulisse. Ein Nachbar mähte den Rasen mit seinem alten Benzinrasenmäher, mehrere Krankenwagen rasten lautstark durch unsere Straße, und ein Hubschrauber drehte ebenfalls gut hörbar seine Runden. Wie soll man denn da in Ruhe meditieren?!

Wie gut, dass es in der Meditation kein Ziel zu erreichen gilt. Nichts festhalten, nichts vermeiden, einfach den Prozess wahrnehmen – „Rest in Natural Great Peace“ – ruhe im natürlichen großen Frieden nennt es Chögyam Trungpa, ein tibetisches Gedicht zitierend (genius.com/Sogyal-rinpoche-natural-great-peace-lyrics).

Alles ist immer in vollkommener Harmonie

Es klingt so einleuchtend: Wenn ich schnell laufe, geht mein Atem schneller. Gibt es mehr Reize, werden meine Sinne aktiviert und es entstehen mehr Gedanken. Emittieren wir immer mehr CO2, steigen die durchschnittlichen Temperaturen auf unserem Planeten. Muss ich mich darüber ärgern? – Nein, natürlich nicht. So sind eben die Naturgesetze. Alles ist immer in vollkommener Harmonie.

Im Alltag ist unsere Wahrnehmung und sind unsere Reaktionen gewöhnlich andere. Wir empfinden deutlich, was sich angenehm anfühlt und was uns unangenehm berührt oder stört. Ersteres versuchen wir festzuhalten oder wieder zu erreichen, letzteres wollen wir vermeiden oder loswerden. Aus buddhistischer Sicht entsteht aus dieser Haltung des Haltens und Abwehrens alles Leiden.

Kein Hirn – kein Problem

Aber die Schwierigkeit bleibt, auch wenn wir sie kennen: Wir können ja weder unseren Willen, unsere Gehirnfunktionen, noch die Naturgesetze abschaffen. Oder andersherum: „Kein Hirn, kein Problem“ – nochmal Chögyam Trungpa mit einem Augenzwinkern in einem seiner Vorträge – ist also keine Lösung.

Im Leben mit Kindern stehen wir oft vor demselben Dilemma: Es ist einfach überwältigend. Von Zeit zu Zeit fordert es körperlich alle Kraft, dann wieder wecken stressige Situationen bedrängende Erinnerungen und Gefühle, viele Reaktionen unserer Kinder verstehen wir schlicht nicht, dann wieder wissen wir, was zu tun ist, aber kriegen es einfach nicht hin.

Zuwenig Arme, zuwenig Kraft, zuwenig Zeit…

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Balance

Wir haben zu wenig Arme, zuwenig Kraft, zuwenig Zeit und viel zu viel zu tun. Dann fühlen wir uns ausgelaugt, könnten alles hinschmeißen. Die Ursache dieser Frustration ist unsere Gewohnheit zu vergleichen. Unser momentanes, jetziges Sein kann niemals negativ sein, außer im Vergleich mit einer „besseren Vergangenheit“ oder einer gewünschten „besseren Zukunft“.

Und diese geistige Gewohnheit, ständig zu vergleichen, können wir leicht verändern. Konflikte entstehen zum Beispiel häufig aus Vergleichen zwischen Ist und Soll: Jemand verhält sich nicht so, wie wir es gewohnt sind oder erwarten, und schon entsteht ein Streit, wer mit seinen Ansichten recht hat. Statt also das reale Problem zu lösen, ärgern wir uns darüber, dass das Problem überhaupt aufgetaucht ist. Es gibt aber keine andere Realität, als sie jetzt ist.

Klare Absicht, Aufmerksamkeit und etwas Handwerkszeug helfen weiter

Wie können wir also mehr in der Realität leben und uns weniger unnütz ärgern? Am Anfang steht der ernsthafte Entschluss. Wenn es also häufig Konflikte mit unseren Kindern gibt, könnten wir sagen: „Ich will mich nicht mehr an unnötigen, unproduktiven Konflikten beteiligen!“ Taucht dann ein neuer Konflikt auf, verändern wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Die wichtigste Frage ist nicht mehr: „Wie kann ich Recht behalten und den Streit gewinnen?“, sondern die entscheidenden Fragen sind nun:

  • „Trage ich im Moment konstruktiv etwas zur Lösung bei?“,
  • „Habe ich das Gefühl, so kommen wir weiter?“
  • „Bin ich jetzt gerade wohlwollend und lösungsorientiert oder im Selbstverteidigungsmodus?“

Lautet eine der Antworten nein, so unterbrechen wir den Konflikt, da wir im Moment nichts Positives zur Lösung beitragen können.

Den Blick weiten und entspannen

Stecken wir fest, drehen sich die Gedanken im Kreis oder sitzt der Ärger tief, können wir die Situation verändern: Wir können uns bewegen; Aufstehen oder Hinlegen bieten neue Perspektiven, den Raum verlassen schafft eine Atempause und neue Eindrücke.

Der Schlüssel für die Änderung von Gewohnheiten ist, sich nicht zu verurteilen, weil es wieder nicht geklappt hat, sondern die Aufmerksamkeit neu auszurichten. Bewusst ein- und ausatmen beruhigt Körper und Nervensystem. Verkrampfung, Trauer, Ärger oder Anspannung körperlich zu spüren, hilft diese zu verorten und anzuerkennen. Wahrnehmen, wie sich Gefühle und Körperempfindungen von Moment zu Moment verändern, befreit uns aus der Identifikation.

Gefühle sind nur Gefühle, und Gedanken sind nur Gedanken. Sie kommen und gehen ganz von allein. Sie sind Produkte von Körper und Gehirn, und wir müssen uns nicht von ihnen abhängig machen. Denn so wie unser Gehirn all diese Gedanken und Gefühle hervorbringen kann, so hat es auch die Mechanismen, diese zu verarbeiten. Wir können ihm einfach dabei zu schauen. Welch eine Befreiung!

Einfach nur Zuschauen

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Im Alltag reicht ein Blick aus dem Fenster, um einfach nur zuzuschauen, wie sich die Blätter im Wind bewegen, wie die Autos eines nach dem anderen die Straße entlangfahren, wie die beurteilenden Gedanken auftauchen und wieder vergehen, wie Langeweile aufkommt und beim nächsten interessanten Eindruck wieder verschwindet.

Ich nenne dieses „einfach dabei zuschauen“ gerne Beifahrerbewusstsein. Wir müssen nicht steuern, wir sind nicht zuständig. Wir können angenehme, neutrale und unangenehme Wahrnehmungen einfach als das sehen, was sie sind: Wahrnehmungen. Wenn wir sie nicht festhalten oder versuchen sie loszuwerden, können wir ihre natürliche Vergänglichkeit erleben.

Loslassen kann man täglich üben

Ich empfehle, regelmäßige tägliche Zeiten im Alltag zu etablieren, in denen wir einfach nur zuschauen. Wie das tägliche Zähneputzen unterbricht diese Zeit des Zuschauens (oder Zuhörens…) den unaufhörlichen Strom von Aufgaben und Erledigungen und öffnet ein Fenster, mit uns selbst vertraut zu werden, mit unseren Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen - offen und ohne Beurteilungen.

Das entstehende Vertrauen auf unsere menschliche Natur und ihre Fähigkeiten zur Verarbeitung unterschiedlichster Erfahrungen gibt uns Sicherheit und Zuversicht für die Zukunft. Denn auch nach dem hitzigsten Streit lassen unsere starken Gefühle und die unserer Kinder nach, wenn wir ihnen die Zeit dazu geben und sie nicht zu manipulieren versuchen.

Mein Fazit:
Leistung anstreben und Ziele erreichen wollen gehört zur menschlichen Natur und bringt erstaunlichen Fortschritt in die Welt. Überfordern wir uns selbst oder unsere Kinder aber häufig, können Gefühle wie Nicht-Genügen, Frustration oder Ärger unser Leben bestimmen. Wie können wir wieder mehr ins Gleichgewicht finden?

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